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Habt mehr Mut

Nachhaltigkeitsforscher André Reichel, Professor für International Management & Sustainability an der deutschen International School of Management (ISM) in Stuttgart, Vordenker für Zukunftsmodelle und „Tree Hugger“ im Interview

Der Welterschöpfungstag – das ist jener Tag, an dem der menschliche Rohstoffverbrauch von uns allen nicht mehr durch die Bildung neuer Ressourcen gedeckt wird – war dieses Jahr in Österreich Anfang April. Das heißt, wir leben acht Monate auf Kosten unserer nachfolgenden Generationen. Was kann man tun? Wo muss Veränderung beginnen? Kann Digitalisierung einen Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise schaffen?

 

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An Wendepunkt angelangt

Aktuell befindet sich die Welt in großer Veränderung. Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus der Pandemie mit und welche Änderungen wären jetzt wichtig?

Es hat sich gezeigt, wie verbunden die Welt miteinander ist. Es gibt kein Da-Unten oder Da-Drüben. Wir können im 21. Jahrhundert nicht mehr sagen, das betrifft uns nicht, das ist ganz weit weg. Auf globale Herausforderungen müssen wir global reagieren. Die Welt vor der Pandemie ist untergegangen, die kommt nicht mehr. Jetzt muss man sich fragen, wie kam es überhaupt dazu. Klar ist, unsere Wirtschaftsweise ist mitschuldig daran, dass es bei Corona zu dieser Zoonose kam, also eine Übertragung des Virus von einem Wildtier auf den Menschen stattgefunden hat. Solche Zoonosen wird es immer wieder geben, wenn wir nicht dagegensteuern, indem wir etwa der Natur wieder ihren Raum geben. Biodiversität muss daher als globales Ziel verankert und national mit Gesetzen umgesetzt werden. Als Gesellschaft müssen wir unsere Art zu Wirtschaften fundamental überdenken. 

Sie formulieren das Wort Wertschöpfung im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Leistung gerne als Werte schöpfen. Was meinen Sie damit und wie kommen wir dahin?

Wir sollten aufhören alles ausschließlich ökonomisch zu betrachten. Dies ist zwar notwendig, aber lange nicht hinreichend. Ein Unternehmen muss auch danach bewertet werden, welchen sozialen und ökologischen Wert es schafft. Mittelständische Unternehmen, nicht nur in Deutschland, machen das vor. Da geht es nicht um Gewinnmaximierung, sondern um eine stetige Ertragsbasis, weil sie sich ihren Mitarbeitern und Kunden verpflichtet fühlen. Unternehmen, die ökologische und soziale Werte schöpfen, denen Klimaschutz wichtig ist, brauchen die Unterstützung der Politik durch Incentives, wie steuerliche Begünstigungen. Auf dieses Jahrzehnt wird es dabei ankommen. Wir spüren deutlich den Klimawandel. Es gibt Dürren und Hitzesommer, auch in Europa. Bei Hölderlin heißt es, in der Not wächst das Rettende. Wenn es jetzt zu mutigen Richtungsentscheidungen kommt, können wir die Klimawende schaffen. Dabei dürfen wir nicht alles auf die Innovationskraft der Unternehmen abwälzen und auf das Beste hoffen. Hier ist vor allem die Politik gefragt. Ich denke aber, dass die nächste deutsche Bundesregierung deutlich ambitionierter an den Klimaschutz herangehen wird. Das hat dann wiederum Auswirkungen auf die europäische Ebene. Ein Blick über den Atlantik zeigt zudem: Die USA haben gerade ein gewaltiges Wirtschaftspaket in Richtung Klimaschutz vorgelegt. So ist der Wettbewerb der Ideen und der politischen Konzepte eröffnet und ich denke, hier werden auch andere mitziehen. 

100-prozentige Kreislauf-wirtschaft

Digitalisierung hat uns stark verändert und wird uns weiter stark verändern. Welchen Beitrag kann Digitalisierung im Klimawandel leisten?

Digitale Technologien können ganze Bereiche neu strukturieren. So sind zwar zum Beispiel die Fluggastzahlen eingebrochen, ebenso wie die CO2-Emissionen aus dem Sektor, aber trotzdem gingen wirtschaftliche Tätigkeiten, auch und gerade über Grenzen und weite Distanzen hinweg, dank technischer Hilfsmittel wie Videokonferenzen weiter. Die Digitalisierung hat große Potentiale beim Thema Substitution von physischen Dingen, beim Thema Optimierung von Energie- und Materialeffizienz, bei der Mobilität und deren Steuerung. Gleichzeitig muss man sehen, dass Digitalisierung extrem materialintensiv ist. Man braucht seltene Erden und Edelmetalle in großen Mengen. Wollen wir die digitale Wirtschaft weiter ausbauen, braucht es die 100-prozentige Kreislaufwirtschaft. Das heißt für mich: Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit der Produkte erhöhen, Ausbau erneuerbarer Energien etc. Gäbe es etwa ein Gesetz für eine Garantiefrist von 10 Jahren bei Elektronikprodukten, würde sich vieles radikal verändern. Die Hersteller würden auf einmal ganz andere Produkte anbieten. Für eine Kreislaufwirtschaft braucht es einen Dreiklang von mutigen Unternehmern, politischen Rahmenbedingungen und dem Druck durch die Zivilgesellschaft. 

Was würden Sie EU-Politikern ins Stammbuch schreiben?

Habt mehr Mut. Das Zeitfenster ist so günstig wie nie. Viele Unternehmen sind bereit in Richtung Klimawandel etwas machen und tun auch schon einiges. Der Zuspruch zu stärkeren Klimapolitiken ist in der Zivilgesellschaft Europas hoch. Jetzt muss man sich trauen, Dinge auf den Weg zu bringen. Jetzt muss der ganze Werkzeugkasten dazu ausgepackt werden, etwa durch ordnungspolitische Maßnahmen wie Steuern, oder durch ordnungsrechtliche Vorgaben zu Kreislaufwirtschaft. Ich glaube, letztendlich werden diejenigen belohnt, die jetzt mutig handeln. 

2025 - Solarstrom günstiger als Kohle

Wie sehen Sie die Zukunft von Technologieunternehmen etwa im Bereich Energie?

Die meisten Unternehmen bewegen sich stark in Richtung erneuerbare Energie und haben sich dahingehend auch verändert. Ich hoffe, dass die Energiewende noch schneller vorangeht. An eines sollten wir uns aber erinnern: Diese Wende kam von unten. Von einzelnen Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort, die sagten, wir müssen raus aus Atomkraft und Kohle, wir müssen unsere Stromnetze in kommunale Trägerschaft bringen, wir müssen Windräder bauen und Solarzellen aufs Dach bringen. Der Blick darauf ist mir in den letzten Jahren zu kurz gekommen. Wir brauchen eine Energiewende, die auch die Menschen miteinbezieht und Vor-Ort-Initiativen unterstützt, um ein ganz neues Energiesystem zu bekommen. Da können Österreich und Deutschland durchaus Erfolge vorweisen. Hingegen global betrachtet, ist die Energiewende noch nicht sehr weit vorangekommen. Hier braucht es auf der Ebene der nationalen Regierungen und auf Ebene der EU einen ganz starken Push in Richtung Entwicklungs- und Schwellenländer mit Technologietransfers und massiven finanziellen Unterstützungen, um die bestehenden Energiesysteme auf erneuerbare umzustellen. Das sehe ich als nächste große Herausforderung. Die Energiewende muss global gedacht werden. Die Kostenentwicklung geht dabei klar in Richtung erneuerbare Energie. Offshore-Windkraft ist jetzt schon ohne Subventionen wettbewerbsfähig und günstiger als Kohle. Nach 2025 wird auch in Europa erzeugter Solarstrom günstiger als Kohle sein. So ist die Entwicklung klar. Es macht keinen Sinn nach 2030 noch in Kohlekraftwerke zu investieren. Das wäre Geldverschwendung.